Komm, ich erzähl dir eine Geschichte by Jorge Bucay

Komm, ich erzähl dir eine Geschichte by Jorge Bucay

Autor:Jorge Bucay
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-01-11T23:00:00+00:00


Jorge blieb ruhig. Ich konnte nicht anders, ich mußte weinen. Ich stand auf und verließ schweigend den Raum. Zwar war ich müde, aber eins wußte ich genau: Es gab noch viel zu tun!

DAS LABYRINTH

Jorge hatte eine Geschichte geschrieben, und weil ich ihn darum gebeten hatte, weil er Lust dazu hatte oder vielleicht wegen beidem, las er sie mir vor.

SCHON IMMER HATTE sich Joroska für Rätsel interessiert. Von klein auf hatte er mit Vorliebe Kreuzworträtsel und Denksportaufgaben gelöst, Geheimschriften entziffert, Labyrinthe erforscht und war jedem Mysterium auf die Schliche gekommen, das sich ihm geboten hatte.

Mit mehr oder minderem Erfolg hatte er einen Großteil seines Lebens und seiner Hirnkapazität der Lösung von Problemen gewidmet, die andere sich ausgedacht hatten. Natürlich war er nicht allwissend, es waren ihm immer wieder Rätsel untergekommen, die selbst für ihn zu kompliziert waren.

Fand er sich einem solchen gegenüber, hatte Joroska ein gewisses Ritual: Er sah es lange an und stellte schließlich mit fachmännischem Blick fest, ob es sich tatsächlich um ein unlösbares Problem handelte.

War das der Fall, holte Joroska tief Luft und machte sich nichsdestotrotz an seine Lösung. Doch gleich darauf begann eine Phase der Frustration, und Joroska verbiß sich nur noch fester in die Rätselanalyse.

Die Fragen schienen unlösbar, Sackgassen taten sich auf, manche Symbole führten in die Irre, unbekannte Begriffe und unabsehbare Komplikationen stellten sich ihm in den Weg.

Vor einiger Zeit hatte Joroska entdeckt, daß er gewisse Erfolgserlebnisse im Leben brauchte. War das der Grund, warum ihm die Rätsel inzwischen nicht mehr solche Freude bereiteten?

Schon nach dem ersten Versuch überkam ihn in der Regel eine tödliche Langeweile, und er ließ die Sache ruhen, um sich irgendwo in seinem Hinterstübchen über den idiotischen Schöpfer solcher Aufgaben zu mokieren, der sicherlich selbst mit ihrer Lösung überfordert wäre.

Aus der Tatsache, daß ihn auch die leichten Fälle schnell langweilten, folgerte er, daß Rätsel stets paßgenau auf ihre Rätsellöser zugeschnitten waren und nur sie selbst den richtigen Schwierigkeitsgrad für sich kannten.

Im Idealfall schneiderte sich jeder sein Rätsel selbst auf den Leib, dachte er. Aber sofort wurde ihm klar, daß damit das Rätsel sein Geheimnis verlor, denn natürlich kannte jeder Erfinder zugleich auch die maßgeschneiderte Lösung für das Problem.

Ein bißchen aus Spieltrieb und ein bißchen vom Gedanken geleitet, Leuten zu helfen, die wie er Spaß am Rätselraten hatten, begann er Probleme zu erfinden, Wortspiele, Zahlenrätsel, logische Kniffelaufgaben und abstrakte Fragestellungen jedweder Art.

Sein Meisterstück aber war die Erfindung eines Labyrinths.

Eines ruhigen sonnigen Tages begann er in einem der Zimmer seiner riesigen Wohnung Wände hochzuziehen, und Stein um Stein errichtete er in naturgetreuem Maßstab ein riesiges Labyrinth.

Die Jahre vergingen. Seine Rätsel verbreitete er unter Freunden, in Fachzeitschriften und der ein oder anderen Tageszeitung. Das Labyrinth aber behielt er unter Verschluß: Es wuchs und wuchs innerhalb seines Hauses und veränderte sich ständig.

Joroska machte es von Mal zu Mal komplizierter, fast unmerklich baute er immer weitere Irrwege ein.

Dieses Werk entwickelte sich zu einer Lebensaufgabe. Es verging kein Tag, an dem Joroska nicht irgendeinen Ziegelstein hinzufügte, einen Ausgang vermauerte oder eine Kurve verlängerte, um den Parcours zu erschweren.



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